YOGA und HEILKUNST

Yoga und Heilkunst

Warum Yoga und Ayurveda eng verbundene Geschwister sind.
Und warum allopathische Medizin nicht zur Familie dazugehört.

Hier widerspreche ich einem Artikel, der in der Zeitschrift Viveka erschienen ist. Yoga und Ayurveda seien keine Geschwister behaupten die Ärzte Dr. Imogen Dalmann und Martin Soder. Woher wollen die in ihrem Artikel zitierten westlichen Wissenschaftler wissen, dass die von ihnen genannten Texte alles aussagen, was über Jahrtausende in fremden Kulturen passiert ist? Wie können sie behaupten, dass „Askese, Brahmanismus und Tantrismus“ einzelne nicht zusammenhängende Wege waren? Und dazu zu solchen Schlussfolgerungen kommen, wie: „Es gab Rivalität, zwischen Yoga und anderen Heilwegen.“ Das klingt an den Haaren herbeigezogen, gerade deshalb, weil die indischen tantrischen Lehren Wissenschaften und Künste als Einheit sehen.

Leider basieren die sogenannten Beweisführungen solcher wissenschaftlich fundierten Artikel oft auf absurden Argumenten, da sie nur zu den wenigen entdeckten, übersetzten und bekanntgewordenen Texten Zugang haben; und ähneln der ideologischen Sichtweise der regressiven und ideologischen indischen Kreise, die behaupten: die Inder wären schon längst auf dem Mond gewesen und die Veden würden das beweisen. Und niemand, auch nicht Gelehrte in Indien, können sich so leicht anmaßen, über die komplexen multilingualen Welten des alten bharatas einen Überblick zu haben.

Kann man denn sagen: Pythagoras war Mathematiker, daher nicht Philosoph? Es ist der gefährliche moderne Geist, der spaltet und trennt: eines der größten Übel unserer Zeit und Verursacher der Zerstörung unseres Planeten.

Und woher kommt der Glaube der Autoren, dass Strukturen und Betrachtungsweisen, die für die westliche Kultur stimmen und gestimmt haben, auch für die afrikanischen, indischen und chinesischen Völker zutreffend sind?

Ich füge dem hinzu: Menschen aus der westlichen akademischen Forschungswelt betrachten Lebensweise der orientalischen, indigenen  oder afrikanischen Menschen, ohne deren Lebenserfahrungen zu haben und kommen zu Schlussfolgerungen und Beurteilungen, die zumeist auf Forschungen kurzer experimenteller Feldstudien basieren oder sich auf Textschriften berufen, deren Deutung und Übersetzung durch die westliche Welt oft gar nicht nachgeprüft sind.

Die Frage „Warum sind die Chinesen im 18. Und 19. Jahrhundert nicht an die fremden Küsten gesegelt und haben dort die Weltordnung vorgegeben? Sie hatten die Intelligenz und dazu fantastische Schiffe und Flotten.“ (aus „Gott der Barbaren“ von Stefan Thome), bleibt unbeantwortet.

Sieht der koloniale Geist die Expansion eigener Werte und Denkweisen als Tugend an? Hat die Erfindung von Waffen wie Kanonen die Strategie der chinesischen (und anderer) Schwertkämpfer einfach weggeballert? Auf jeden Fall, so scheint es heute: Die Gesellschaft, die industriell gefertigte Waffen hat, bestimmt das Denken und Herrschen und die Medizinrichtung dazu. Und die chemischen Konzerne, die deren Medizin herstellen, wollen Profit.

Heilerfolge werden durch Massen-Umfragen und Statistiken belegt. Im Gegenzug aber wird alles was sich diesem Denken über Gesundheit nicht unterwirft, schnell als Magie, Humbug und Scharlatanerie, in jedem Falle als minderwertige Heilkunst, abgeurteilt. Also lässt sich aus dem Artikel gar schlussfolgern, dass die Autoren auch in Ayurveda eher ein minderwertiges Heilsystem sehen?

Es wird im Artikel außerdem behauptet, eine Verbindung zwischen Yoga und Ayurveda herzustellen, entspreche dem modernen Wunsch nach Exotika, oder passe in die Vermarktungsstrategie von Wellness-Anbietern, deshalb würde man sie zusammen benennen und das wäre falsch.

Doch Fakt ist:

Nie waren Yoga und Ayurveda weiter auseinander als heute in den Lifestyle Angeboten. Da wird der Körper bei einer ayurvedischen Behandlung einmassiert und geölt und weich gemacht. Danach sollte er eigentlich ruhen. Ambitionierte Wellnesssuchende wollen aber die Yogaklasse danach nicht auslassen und stellen ihren Körper auf den Kopf. Sie biegen ihn in mögliche und unmögliche Richtungen! Das ist nicht nur Unsinn und geht an allem vorbei, was die Verbindung von Yoga und Ayurveda ausmacht. Aber zeigt so wenig Verständnis von Ayurveda wie auch von Yoga.

Zunächst zurück zu allopathischer Medizin. Sie kann Leben retten und ist ein Segen. Sie findet nicht nur früh heraus wer sterben muss und kämpft dagegen an und wirkt Wunderbares. Die Kehrseite des Segens aber ist: sie sieht den Menschen als Masse an, den eine Epidemie einholen könnte. Weder berücksichtigt sie das Individuum noch seine Geborgenheit in einem großen Ganzen; sieht nicht den Zusammenhang makrokosmischer und mikrokosmischer Realitäten: Woher kommt die Krankheit und wie entwickelt sie sich in Bezug auf den Einzelnen? Der Mensch, seine Beziehung zur Natur bleibt unbedacht.

Das Ergebnis ist eine Medizinrichtung, deren Erkenntnisse auf Teilen und Trennen basieren. Der Magen wird nur als Nachbar zum Herz gesehen und nicht als Bruder des Herzens mit gemeinsamen Eltern. Ayurveda richtet den Blick zuerst immer auf die gesamte Familie des Körpers, da diese eine enge Gemeinschaft bildet. Geht’s dem einen Organ schlecht, leidet das andere genauso. Alle Organe, wie Kinder einer Lebensenergie, bilden einen Kreis. Sie sind von ihrer Mutter abhängig, während ein Nierenspezialist nur die Niere sieht und nicht die Mutter des Organs: die Lebensenergie.

Somit geht der ganzheitliche Ansatz in der Allopathischen Medizin immer mehr verloren.

Ein kurzer Blick zunächst auf meine Lebenserfahrung mit Yoga und Ayurveda

Neulich wurden mein Herz und Blutdruck maschinell durchleuchtet. Sofort wurden Blutdruck Tabletten verschrieben. Als ich nach Indien kam, suchte ich meine ayurvedische Ärztin für eine zweite Meinung auf. Sie interessierte, ob ich Wadenkrämpfe hätte, wie der Magen auf Essen reagiere. Spezifisch wurde festgehalten, wie der Magen auf welche Speise reagiert und wie der Darm funktioniert, dann wurde ich nach genauen Positionen beim Kopfdruck gefragt und so ging es weiter. Der ganze Körper wurde als Familie erkannt, denn das Familienproblem musste gelöst werden. Es ging um den ganzheitlichen Ansatz, und siehe: Nach starker ayurvedischer Medizin und Behandlung wurde das Problem innerhalb von zwei Wochen (vorerst) gelöst. Natürlich müssen weitere Behandlungen folgen. Ayurveda verlangt, dass man es 365 Tage im Jahr befolgt und hat komplizierte Vorschriften, die oft nicht in den westlichen Alltag passen!

Es stimmt, wenn die Autoren sagen, dass T.K.V. Desikachar Ayurveda und Yoga im KYM nicht als zusammenhängend gelehrt hat. Er war nämlich zu der Erkenntnis gekommen: „Ayurveda ist nicht für westliche Menschen geeignet!“ Er meinte, es ist zu komplex, da Menschen im Westen die Essgewohnheiten nicht befolgt haben, die indische Menschen seit Jahrtausenden befolgen und ihnen dazu noch der geistige Zusammenhang nicht selbstverständlich ist. Er hat aber indische Patienten anders als westliche behandelt. Der Beweis ist:

Ich hatte 1984 eine Lungenentzündung. Sriram nahm mich mit zu seinen Lehrern. Sir Desikachar sagte: Du stehst vor zwei Wegen: Entweder du gehst zu Allopathie und nimmst Antibiotika, oder du folgst uns ganz haarscharf genau und hast Vertrauen in Ayurveda und Yoga, dann berate ich deinen Fall mit meinem Vater T. Krishnamacharya.

Ich habe mich für letzteres entschieden und bekam schwere Auflagen: z. B. 10 Tage schweigen (als Mutter eines dreijährigen Sohnes), ganz spezifische Yogaübungen, Reinigungstechniken, Medizin zum Einnehmen und bestimmte ayurvedische Kräuter, die ich in kleinem offenen Feuer brennen und den Rauch einatmen sollte. Das ist so ausgeklügelt gewesen, dass zum Beispiel die Anwendung mit Feuer und Rauch nur in Madras an der schwülen feuchten Küste gilt; ganz anders hätte er mich in den indischen Bergen, wo ich heute lebe, behandelt. Solche Behandlungsweisen passen seiner Ansicht nach nicht zum in Tabellen und Statistiken denkenden Westmenschen.

Jedenfalls wurde ich geheilt und folge seit bald dreißig Jahren dem Ayurveda sowie dem Yoga als ein und derselben Therapie. Ayurveda und Allopathie aber kann man aber nur schlecht zusammen befolgen, sie sind keine Geschwister und aus anderer Denkweise geboren.

Warum Yoga und Ayurveda zusammengehören

Grundlegend in Ayurveda ist, dass Sonne und Mond unser Leben bestimmen. Die Haupttechniken des Yoga wie nadisodhana pranayama möchten die Kräfte von Sonne und Mond im Körper des Yogis wirken lassen. Indische Göttinnen und Frauen tragen Sonne und Mond als Schmuck im Haar und zeigen ihre körperliche Verbindung zum Tanz der Gestirne. Die kultischen Zusammenhänge werden in den indischen Körpersystemen, wie auch der Kampfkunst, gehuldigt und sie verehren die unterschiedlichen und komplementären Energien von Sonne und Mond. Das verbindet alle Körpersysteme auf engste Weise.

Yoga, Ayurveda und indische Kunst betrachte ich nicht von außen oder durch Studien verschiedener Schriften, noch ordne ich sie einem sich überlegen gebenden, westlich wissenschaftlich geprägten Denkschema unter, hingegen erkenne ich sie als ewig ergebene Schülerin und immer wieder hilfesuchende Patientin (und sogar nach Erleuchtung strebende Künstlerin) an.

Probleme unserer Zeit

Die aktuelle Angst und Frage unserer Zeit ist doch: Gehen wir einem Klimainfarkt entgegen? Dazu müsste nach yogischem Denken erst festgestellt werden, wo steht der einzelne Mensch dabei. Es reicht nicht aus zu befehlen: „Reduziere CO2!“

Sieht jeder aber seinen Organismus als zusammenhängende Familie, ist die logische Konsequenz doch, dass er irgendwann den Rest der Welt auch als einen zusammenhängenden Körper begreift, und dass das gesamte Leben überhaupt verbunden ist. (siehe Gedicht)

Seuchen und Unheil entstehen auch durch unsere gespaltene Betrachtung. Konsequent gedacht sind Tiere unsere Schwestern und Brüder. Die aber foltern wir durch ungerechte Haltung, danach essen wir sie und wundern uns hinterher, wenn immer neue Epidemien in die Welt gelangen. „Das sind ja nur Tiere und uns fremd. Eigentlich unsere Feinde!“ Wir verachten sie erst als dreckig und dann essen, was wir vorher verachten.

Genauso sehen wir Bakterien als unsere Feinde an. Wir streben eine sterile Umgebung an und trennen uns von der Umwelt. Ohne zu begreifen, dass wir das Gleichgewicht der Bakterien durch dieses Eingreifen empfindlich gestört und verletzt haben.

Die Erde mit den Bodenschätzen sehen wir als fremdes Gut an, das wir ausbeuten können. Wäre die Erde Teil unseres größer gedachten universellen Leibes – indem wir uns nur als ein winziges Teilchen sehen –, werden wir sie behutsamer behandeln. Und bei Ausbeutung wissen, es geht gegen unseren eigenen Leib. Wir und die Welt sind eins:

Körper sind Glieder des Universums
In jeder Sprache ist der eine Ur-laut
Unser aller Schmuck ist das Licht
Und jede Seele, in jedem Erdenklumpen wohnt Gott.
(Aus Abhinaya Darpana)

Dass Mensch und Umwelt getrennte Einheiten sind, ist eine Sichtweise, die auch alles Mögliche getrennt sehen möchte, wie die Autoren „Yoga und Ayurveda“ getrennt sehen – und dann sogar noch obendrauf östlichen Wege in Konkurrenz zueinander setzen! Eine Sichtweise, die ich als grob fahrlässig für die Entwicklung der Welt erkenne.

Heilkünste wie TCM, Ayurveda u. a. müssen ihre Sichtweise als vollwertig präsentieren und erläutern dürfen, ohne dass der Westen für sich schon in Anspruch nimmt, zu wissen, wie nun Heilkünste anderer Kulturen einzuordnen sind.

Warum sind Ayurveda und Yoga enge Verwandte?

Viele Großväter heutiger Inder haben zur Sonne gebetet und die Körperübung des Sonnengrußes ausgeführt, ohne es Yoga zu nennen. Die Großmütter haben beim Kochen gewusst welche Speise zu welcher passt, und welche Zutat mit einer anderen gemischt, Gift im Körper erzeugen kann. Sie wussten was Winde macht (Gas) und was zur Verschleimung beiträgt. Sie sorgten dafür, dass alle in der Familie zum richtigen Zeitpunkt angewandte Ölungen und andere Heilbräuche machten, die auch zu ayurvedischen Behandlungen gehören. Wer glaubt, dass das Körperverständnis von Yoga nicht mit dem des Ayurveda eng verwoben ist, verhält sich auf mindestens einem Auge blind. Yoga und Ayurveda sind in den indischen Familien unterschiedlichster Kasten Brauch gewesen, überliefertes Wissen, gelebte Kultur und Erfahrung, ohne dass sie diese Namen trugen. Ayurveda-Spezialisten besuchte man für Rat bei schwierigen Krankheiten. Da wurden unter anderen die Nadis, die Energiebahnen untersucht und der Atmenfluss und die anderen Körperwinde, gemeinsam der Prana, betrachtet. Das alles gehörte zusammen.

Erst in den letzten Jahrzehnten wurden Yoga und Ayurveda für die Vermarktungsindustrie des Kapitalismus entdeckt und profitabel eingesetzt. Ayurveda wurde zur Wellness-Oase für Touristen reduziert; für Touristen, die sagen: „Ich kann auch mal so eine Kur machen und mir das leisten, ohne es als vollwertige Medizin anzusehen. Aber für die echten Probleme gehe ich zu meinem allopathischen Arzt zurück.“

Aus Yoga aber wird ein boomendes Bewegungs- und Sporterlebnis.

Wenn Dalmann/Soder behaupten Yoga und Ayurveda gehören seit alten Zeiten nicht zusammen, und T. Krishnamacharya hätte sie durch seine Persona als Multitalent zusammengebracht. Worauf begründen sie diese Behauptung?

Sie schreiben als Schlussfolgerung: für Yogatherapie heute wäre Ayurveda nicht wichtig. Damit nehmen sie den beiden Heilsystemen ihre Seele und geben außerdem Yoga frei zur beliebigen Interpretation: „worauf es ankommt“ und natürlich auch „womit es verbunden“ ist. Sie entnehmen damit Yoga seinem indischen Kontext und kolonialisieren seinen Wert. Wie viele andere „Lehrer“ Yoga neu für die westliche Welt interpretieren wollen, pfropfen sie auf yogisch-ayurvedisches Körperverständnis das schulmedizinische. Sie argumentieren, dass Yoga, wie wir es heute kennen, neu sei. Somit steigern sie die Vermarktbarkeit von Yoga und integrieren es in ein leicht verständliches, mit westlichen Werten leicht vereinbares Heilsystem.

So ergibt sich eine neokolonialistische Deutung durch die moderne akademische Interpretation des Yoga.

Nicht ich ersehe und urteile, es ersieht mich genauso

Yoga und Ayurveda kommen aus ein und derselben Denk- und Glaubenswelt: Sie stellen die drei gunas: sattva, rajas, tamas an zentrale Stelle. In Ayurveda ist das übertragbar in vata, pitta kapha. Die fünf Elemente prthivi, ap, tejas, vayu, akasa sehen sie beide als Substanz an, die unsere Beziehung zur Materie und dem Kosmos bestimmen und lenken. Ohne ein gutes Verständnis von diesen beiden Prinzipien kommt man keinen Schritt weiter in den Tiefen des Yoga oder Ayurveda.

Hinzu kommt die Idee des darsana, des Sehens, die für Yoga wie Ayurveda gleichbedeutend ist. Der Begriff Darsana enthält „sehen und gleichzeitig gesehen werden.“ Er ist gekoppelt mit der Idee, dass der, der die Welt erkennt, immer auch von der Welt zeitgleich erkannt wird. Die völlige Objektivität gibt es nicht.

Natürlich ist wichtig, auch Objektivität in der Erkenntnis zu suchen. Aber die Vorstellung, immer auch von der Erkenntnis angesehen zu werden und mit ihr in einem Nexus zu stehen, ist meines Erachtens im wissenschaftlichen Denken eher unbekannt.

Wenn man auf die indische Mathematik der Frühzeit, wie bei Bhaskara zurückgeht, wurden oft Formeln entdeckt, weil die Lösungen gesehen werden konnten. Da offenbarten sich Demjenigen Lösungen, der in der Annahme einer göttlichen Matrix schaute. Und das gilt für viele solcher Formeln, deren Entdeckung heute Newton, Leibniz oder anderen zugeschrieben werden. Diese Matrix wird sogar auf die Liebe zutreffen, wie sie verstanden wurde. So ist Liebe im modernen Denken beispielsweise „meine Liebe“, die, welche ich empfinde. Der Gedanke, dass Liebe sowieso da ist als Kraft im Universum, die mich entdeckt und einnimmt, gerade während ich sie erkenne und entdecke, ist westlichem Denken weitgehendst fremd.

Darsana, dieses Erkennen mit gleichzeitigem Verbunden-Sein mit dem Erkannten, das Sehen und Gesehen werden, ist der Segen; ist Kunst, Mathematik, Yoga, ist Ayurveda zugleich. Darum geht’s.

Anjali Sriram

In Base, Kodaikanal 30. März 2020