Diskurs mit Kornelia Becker-Oberender und R. Sriram

Ist Yoga mit Kindern „Kinderyoga“?

AUS DEM BUCH YOGA FÜR KINDER UND JUGENDLICHE
Kornelia Becker-Oberender und R. Sriram

Kornelia: Ist „Kinderyoga“ als eine Form des Yoga zu verstehen?

Sriram: Wenn wir von „Kinderyoga“ sprechen, so suggerieren wir, dass es sich um eine gesonderte Form des Yoga handelt. Das führt in die Irre. Unsere Aufgabe ist es, mit Hilfe von pädagogischen Schritten, ein Kind im Yoga kindgerecht zu unterrichten. Das nennen wir „Yoga für Kinder“.

Kornelia: Was ist Yoga, wenn er weder der Kategorie Leistung noch der Entspannung zugeordnet werden sollte? Könnte ich Yoga als eine Erlebnisstunde für das Kind verstehen?

Sriram: Bei Albert Einstein heißt es, „Lernen ist Erfahrung. Alles andere ist einfach nur Information.“ Lernen darf, insbesondere bei Kindern, nie von der Erfahrung abgekoppelt werden. Lernen aber ist ein ganz wichtiger Bestandteil der Erfahrung. Bei einer guten Yogastunde geht es nicht um eine allgemeine Erfahrungseinheit, sondern genau genommen um eine Lerneinheit, verbunden mit einer persönlichen Erfahrung. Es handelt sich hier um eine bewegte Lernstunde. So wird aus Yoga mehr als eine Erlebnisstunde. Wer Yoga als eine Erlebnisstunde sieht, packt – um des Erlebnisses willen – alles Mögliche in die Stunde hinein und arbeitet am Thema Yoga vorbei.

Kornelia: Es geht um das Erlernen der Basiskompetenzen Körperwahrnehmung, Widerstandskraft, Selbstachtung, Beziehungsfähigkeit, Aufmerksamkeit und das Finden der eigenen Identität. Die Bewegungsfreude des Kindes ist dabei der Motor, den eigenen Körper ausgeprägt kennenzulernen, ein gesundes Körpergefühl zu entwickeln und damit verbunden eine gut ausgebildete Grob- und Feinmotorik. Das wiederum wirkt sich auf die gesamte kindliche Entwicklung positiv aus, u. a. auf Herz-, Kreislauf- und Atemtätigkeit sowie Motorik und Körperbeherrschung. Inwieweit nimmt Yoga auf den Zusammenklang von unterschiedlichen Bewegungsmustern und Rhythmen Einfluss und können vorhandene Disharmonien verändert werden?

Sriram: Durch die flüssige Verbindung von Körperhaltungen entsteht ein Gefühl der Leichtigkeit, die einen besseren Umgang mit den Disharmonien des Körpers ermöglichen. Durch das bewusste Ausführen eines solchen Bewegungsablaufes soll das Kind ermutigt werden, den für sich optimalen Fluss in der Bewegung zu finden. Spätestens wenn das Kind lernt, seinen Atem mit der Bewegung mitzuführen, lernt es, mit den Disharmonien und Verspannungen richtig umzugehen.

Kornelia: In der Pädagogik wird bei dem Heranwachsenden die Stärkung und Stabilisierung seines Vertrauens in die eigene Kraft als eines der zentralen Ziele verstanden. Könnte Yoga als ein „universelles Handwerkszeug“ zur Selbsterkenntnis und -regulation dienen?

Sriram: Wenn ein Kind erlebt, dass es über den Körper und dadurch über sich etwas lernen kann, dann wächst sein Vertrauen in die eigene Kraft. Das gilt natürlich auch bei Kindern. Dabei ist es wesentlich, das eigene Maß zu finden: Wie viel kann ich mir zumuten? Habe ich genug Ausdauer? Wo ist heute meine Grenze? Der Lehrende muss herausfordern oder sich zurücknehmen, je nach dem, was gerade benötigt wird.

Kornelia: Kann Yoga die Basissinne, die sich vor der Geburt im Mutterleib zu entwickeln beginnen, direkt ansprechen und insbesondere in der Entwicklungsphase des Kindes, in deren Reifung, unterstützen?

Sriram: Ja, der Mensch ist auf eine gewisse Weise nie im Leben so isoliert und selbstständig wie im Mutterleib, da die Mutter wie eine Art Ausdehnung des eigenen Leibes ist. Dort lenkt ihn niemand oder bestätigt seine Entscheidungen. Diese Isolation und gleichzeitige „Selbstständigkeit“ bietet eine gute Unterstützung für die Entwicklung der Basissinne. Yoga gibt dem Kind den Raum, den es vor seiner Geburt hatte, in dem es die eigenen Körper-Erfahrungen machen und entsprechend Entscheidungen treffen kann. Das Kind erhält bei einer solchen Auseinandersetzung mit seinem Körper realistische Rückmeldungen. Das ist für ein unbeeinflusstes Entwickeln der Sinne bedeutungsvoll.

Kornelia: Es gibt sicher Asanas, die nicht jedes Kind ausführen kann. Ist es nicht sogar für die Entwicklung des Kindes schädlich, wenn es in der Gruppe erfährt, dass die anderen Dinge schaff en, die es selbst nicht kann?

Sriram: Genau hier sollte der Unterschied zwischen einem Gymnastik- und einem Yogaunterricht liegen. Wenn Vergleich überhaupt eine Rolle spielen soll – manchmal ist das im Unterricht mit Kindern notwendig – dann gilt nicht der Vergleich des äußeren Bildes der Übung, sondern die Qualität der Ruhe und Stabilität, die dieses Bild vermittelt. Damit lernen sie, auf sich zu schauen und sich weniger mit anderen zu vergleichen. Was können Eltern dazu beitragen, dass Kinder Yoga lernen und üben?

Kornelia: Karl Valentin sagte einmal: „Erziehung lohnt nicht, sie machen uns doch nach“. Eltern, die selbst Yoga üben und diese Art der Auseinandersetzung mit sich selbst als wertvoll empfinden, wecken oft von ganz allein das Interesse ihres Kindes, sich ebenfalls im Yoga zu erproben. Ein Kind, das in den Unterricht kommt und sagt: „Ich muss Yoga üben, damit ich mich wieder konzentrieren kann“ oder „Ich soll Yoga machen, damit ich nicht mehr so zapplig bin“, verbindet Yoga mit Medizin oder Therapie, die es zu nehmen oder zu befolgen hat, damit es konzentriert oder ruhig ist. Ihm entgeht dabei, dass Yoga ein Weg sein kann, sich und die eigenen Fähigkeiten kennenzulernen und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.