Citta Verwirrung…?

Die letzten vier Jahre des Trump-Wahnsinns in USA waren schwierig für mich anzusehen. Vor allem weil ich dort aufgewachsen bin, und als US-Amerikanerin immer noch viele Menschen dort kenne. Mir kam es vor, als ob die Fronten sich so verhärteten, dass kaum Kommunikation mehr möglich war. Meine Freunde waren anfangs ziemlich dauerhaft auf Demos, dann später eher resigniert. Ganz aufgegeben haben sie aber nicht und riesig groß war die Freude jetzt nach der Wahl, allerdings auch erschütternd, dass trotzdem so viele Stimmen für Trump abgegeben wurden, und dass Trump und seine skrupellosen Anhänger immer noch die Wahlergebnisse abstreiten. 

In den USA fand in den letzten vier Jahren unter Trump eine gravierende Verzerrung der Realität statt, die allerdings schon vorher begonnen hatte. Falsche Angaben, die millionenfach über soziale Medien geteilt wurden, haben den öffentlichen Raum massiv durchdrungen. Zunehmend konnten die beiden Seiten keine gemeinsame Basis finden, um überhaupt ins Gespräch zu kommen. 

Gewiss hat Trump nicht alle gesellschaftlichen Probleme der USA alleine geschaffen. Armut, fehlende soziale Strukturen (abgebaut als zu teuer), immer größer werdende Kluften zwischen den Superreichen und der immer kleiner werdenden Mittelschicht, Rassismus, Sexismus, usw. usw., existierten schon lange in den USA. Das war die instabile Basis, auf der Trump erstmal gewählt werden konnte. Trump hat die Polemik dann in eine neue Dimension getrieben, indem er das offensichtliche Lügen und ‚alternative Fakten‘ (was es ja nicht geben kann) salonfähig machte. Er hat mit seinen direkt-kommunizierten Unwahrheiten viele Menschen davon überzeugt, bewiesene Unwahrheiten als Fakten zu sehen. Zunehmend schien bei vielen eine massive Citta-Verwirrung geherrscht zu haben.

Wieso kommt es dazu, dass wir Menschen etwas Falsches mit etwas Wahrem verwechseln? Die Täuschung ist ja ein grundlegendes Problem, ein Klesha. Aber wieso breitet es sich in bestimmten Epochen bei vielen Menschen besonders heftig aus? Die deutsche Philosophin Hannah Arendt hat die schrecklichen Ereignisse nach dem 2. Weltkrieg analysiert. Sie schrieb viele Bücher darüber, wie es überhaupt zu Diktaturen kommen konnte und wieso viele Menschen bereit waren, offensichtliche Unwahrheiten zu glauben. Dazu schrieb sie, dass die Bereitschaft der modernen, zunehmend isolierten Menschen an Propaganda zu glauben vor allem dann eintritt, wenn die Realität unverständlich, zufällig und grausam erscheint. In diesen Situationen sei eine künstlich hergestellte Deutung der Situation leichter zu akzeptieren als die Wirklichkeit. (Zitiert in diesem lesenswerten Artikel, die die Trump Jahre anaylsiert: https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2021/01/the-legacy-of-donald-trump/617255/

Vielleicht gerade deswegen verblüffte mich die aktuelle Situation in Deutschland sehr, als immer mehr Menschen, einschließlich nicht wenige aus der Yoga-Szene, mit den Corona-Regelungen zusammen mit Demonstranten ganz anderer Richtungen gemeinsam gegen ‚die Wissenschaft‘ oder gegen ‚das System‘ protestierten. Meinungsaustausch gehört ja zur Demokratie, aber die zunehmende Anzweiflung von Tatsachen und die gefährliche Verwechslung von Wahrheit und Meinung erinnerte mich zunehmend an die Taktiken der Trump-Unterstützer. Als neulich eine Yoga-Kollegin mir sagte, sie zweifle es an, ob es überhaupt ein Virus gibt, hatte ich wieder den Eindruck, dass sich hier auch eine verzerrte Wahrnehmung ausbreite. Kommen also die ‚alternativen Fakten‘ bei uns in Deutschland auch an? Ich fragte mich, was waren die Gründe, und wie sollte ich, vor allem als Yoga-Lehrerin, handeln?

Die neue Corona-Situation stellt uns vor viele Herausforderungen. Wir sind täglich mit steigenden Todeszahlen, Lockdown-Maßnahmen und gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert und versuchen das zu deuten. Natürlich entstehen unterschiedliche Meinungen zur Lösung des Problems. (Mich stört auch einiges an den momentanen Vorschlägen aus der Politik, z.B. wieso mit Milliardensummen die Lufthansa und die Autoindustrie retten, obwohl wir eigentlich doch weniger unterwegs sein wollten? Was ist mit den Kleinunternehmern? Wieso die Impfung als einzige Lösung, wie könnten wir weiter denken in Sachen Gesundheit? Und, und, und…) Diese Streitthemen und viele andere sind wichtig, das gehört zum freien, demokratischen Prozess dazu. Und dieser Prozess braucht Zeit.

Aber zunehmend finden die Gesprächspartner überhaupt keinen gemeinsamen Nenner mehr. Die eine Seite sagt, ‚Ja Masken und weitere Kontakt-Reduzierungen‘, die andere Seite kontert: ‚Aber wozu, wenn es überhaupt kein Virus gibt?‘ Wenn die Annahmen so weit auseinander gehen, wo fängt man an, Lösungen zu finden?  Und wie kann dann eine einmal gefundene Lösung von der Mehrheit akzeptiert werden?  Die Polarisierung der Meinungen, wobei wir keine gemeinsame Wahrheit mehr finden, kann eine ernsthafte Gefahr für eine offene Gesellschaft sein, vor allem dann wenn die Grundstruktur angegriffen wird (z.B. keiner neutralen Berichterstattung mehr zu trauen). Wichtig bei allen Auseinandersetzungen wäre also wenn wir alle dazu stehen, dass die Demokratie, auch wenn sie manchmal langsam und konflikt-erfüllt ist, trotzdem ein hohes Gut ist. (Was wäre die Alternative?) Also wenn unter der Rubrik „Querdenker“ viele Demonstranten (Yogalehrer neben Pegida, Reichsbürgern und anderen) marschieren, macht mir das auch deswegen große Sorgen, weil die rechte Szene ganz andere langfristige Ziele hat: Sie wollen das demokratische System nicht unbedingt verbessern und reformieren, sondern eher abschaffen. Und womit ersetzen? Die Demokratie ist etwas, das wir pflegen sollen. Unser tiefes Vertrauen, unser Shraddha-Bekenntnis für die Demokratie und eine glaubwürdige, freie Presse finde ich hier essentiell.

Der zeitgenössische deutsche Philosoph Markus Gabriel wurde neulich zu diesen Themen rund um Corona interviewt. Er wurde von der Neuen Zürcher Zeitung gefragt, ob wir es dabei belassen können, unterschiedliche Wahrheitsversionen zu akzeptieren.
( https://www.nzz.ch/feuilleton/der-philosoph-markus-gabriel-ueber-corona-wahrheit-und-moral-ld.1583000 )
Er antwortet, dass das keine Lösung ist, denn Wahrheit ist Wahrheit und kommt nicht in unterschiedlichen Variationen vor. Er sagt weiter, dass es momentan ein großes Problem sei, dass wir Wahrheit und Meinung verwechseln. Da musste ich gleich ans Yoga Sutra denken – also das uralte Problem, die Aktivitäten Cittas mit denen Drashtas zu verwechseln. Citta bildet sehr gerne Meinungen und verwechselt dabei, wer das eigentliche sehende Selbst ist. Später im Artikel gibt Gabriel einen Vorschlag, um der gesellschaftlichen Klarheit wieder zurück zu helfen: keine oder sehr wenige soziale Medien zu konsumieren. Also wieder ein Yoga Sutra Bezug: Agama, vertraute Quellen als eine der drei Möglichkeiten, die Wahrheit zu erfahren. Das heißt, wir informieren uns anhand von vertrauenswürdigen Quellen, wo versucht wird, wahre Tatsachen herauszufinden und wo überprüft wird ob die Fakten und deren Deutungen stimmen. Vielleicht bringt es uns auch näher an die Wahrheit wenn wir auch dann, wenn wir etwas nicht glauben, uns selber klar machen, wieso es nicht glaubwürdig ist (egal ob es von sozialen oder Mainstream Medien, oder anderen Kreisen stammt.)  

Die Yoga-Sicht

Und vielleicht ist daher unsere momentane Aufgabe als YogalehrerInnen, die Kommunikation konstruktiv weiterzuführen, um ein gemeinsames Streben nach Wahrheit auf beiden Seiten der Diskussion zu fördern, und den Anderen dabei respektvoll zuzuhören. Neulich habe ich in meinem Yoga-Gruppenunterricht das Thema vorsichtig angesprochen, da ich länger das Gefühl hatte, es gibt dazu Gesprächsbedarf. Ich habe zuerst über die Kleshas gesprochen, diese latenten Kräfte der Täuschung, der Gier, des Ablehnens, des übermächtigen Egos und der unbegründeten Angst, die vor allem dann, wenn der Geist unruhig ist, zuschlagen können. Auch darüber, dass unsere Handlungen, die auf Kleshas basiert sind, Folgen haben, meist negative, und dass darum eine wachsame Selbstreflexion im Yoga empfohlen wird, damit wir nicht unbewusst aufgrund von diesen Täuschungen handeln. Wir haben dann über die besonderen Herausforderungen jetzt in Zeiten von Corona zwischen Wahrheiten, Unwahrheiten und Meinungen zu unterscheiden, und ich erzählte weiter aus dem Yoga Sutra, in dem die Unterscheidungskraft, Viveka, ein sehr wichtiges Yogaziel und auch -Fähigkeit ist. Es kam zu einer spannenden, respektvollen Diskussion, wo auch unterschiedliche Sichtweisen geäußert wurden. 

Vielleicht können diese Corona-Herausforderungen gerade eine Chance sein, tiefer über die Denkprozesse des eigenen Cittas zu reflektieren und auch eine Möglichkeit, sich für neue Perspektiven zu öffnen, hoffentlich um gemeinsam als Gesellschaft zu mehr Klarheit zu kommen. (Dies wäre ja für unsere dringenden ökologischen Aufgaben mehr als notwendig.) Wir wissen ja im Yoga: Der wirkliche Feind ist Avidya, die Täuschung, und ein wichtiges Ziel auf dem Weg ist Satya, die Wahrheit. Hoffentlich können wir im offenen Austausch den Weg dorthin finden. Kriya-Yoga, das Handeln mit Tatkraft, Selbsterkenntnis und Hingabe ist ja die geniale Stütze, um die Kleshas zu schwächen und uns zur Klarheit zu helfen. Was für ein Glück, unser weiser Yogaweg. In diesem Sinne wünsche ich uns allen mehr Klarheit und ein wunderbares neues Jahr!

Ria Hodges, Dezember 2020